Gedanken über eine Metaphysik des Portraits – Zoran Terzic zur Malerei von Bettina Sellmann

Wir sehen Portraits, dennoch haben wir es eher mit einer Metaphysik der Portraitkunst zu tun. Die gemalten Charaktere scheinen von einem vorbildhaften und absoluten Blickpunkt aus betrachtet und gestaltet worden zu sein, der ihnen eine zeitlose und absolute Bestimmung zuweist.

[…]

Im Fadenkreuz einer mode-märchenhaften Welt wirken die Bilder „ungestört“, wie vom Wunsch nach Unantastbarkeit beseelt. Es herrscht die Sehnsucht nach geborgener Sich-selbst-Gleichheit und einer entrückten Identität, die sich jenseits jeglicher Kultur- und Weltbestimmung befindet.

Fast scheint es, als habe man nicht Portraits, sondern Weltbeschreibungen vor sich, und die Gesichter dienten nur als Camouflage, als subtiles Ablenkungsphänomen, als Wächter oder Regularien, die es nicht jedem erlauben, in diese Welten einzutreten.

Ich schreibe bewusst „fast scheint es“, denn ich muss mich fragen: Ist es nicht absurd zu behaupten, die Bilder seien nicht so, wie sie aussähen, da das „Aussehen“ die Bilder (d.h. ihre Welt) verdecke? Warum muss man eine geheime Welt dort vermuten, wo vielleicht nichts Geheimes ist?

Vielleicht ist es gerade die Tiefenspannung zwischen dem vorgestellten Unentdeckten und dem unverstellten Sichtbaren, die den Reiz dieser Werksreihe ausmacht. Die Welt ist immer präsent, aber ihre Erscheinungs- und Verdeckungsformen variieren. Das Wesenhafte und Eigentliche jedoch entzieht sich der Weltbeschreibung. Man kann mit dem allgemeinen Auge nicht auf Kunst blicken, man kann nur – wie Nietzsche schrieb – „blinzeln“.

Vielleicht ist daher die Kurzformel für die Portraits, dass sich Welt und Wesen im Grunde ausschließen. Entweder ich kann die Substanz und Wahrheit eines Phänomens erkennen (das feststellende, einfrierende Moment) oder ihre Eingefasstheit in einen historischen, soziologischen oder psychologischen Zusammenhang (das flüchtige, veränderliche Moment). Entweder ich kann in den Blick einer geliebten Person unendlich versinken oder ich erfasse die „Oberfläche“, z.B. Augenfarbe und Gesichtsregungen, Physiognomie und Psychologie. Entweder ich „liebe“ oder ich „betrachte“. Ich kann nicht das absolut Ganze – das, was Aristoteles to synholon (das zusammengesetzte Ganze, das Konkrete) nannte – erfassen, sondern nur das Ganze als Gegenstand (z.B. als Objekt der Begierde: „Dieses x bedeutet alles für mich.“) oder als Prozess der existentialen Versenkung (Ich bin diese Bedeutung).

Nun ist es gerade die Versenkung, die in den Portraits thematisiert wird in dem Sinne, dass das „in-der-Welt-sein“ der abgebildeten Figuren zum „in-der-Isolation-sein“ von einem metaphysischen Standpunkt aus uminterpretiert wird. Die Gestalten werden für uns „freigelegt“, seziert, und mit ihnen der sie umgebende Raum.

Man könnte sagen, die Bilder schildern uns einen absurden Versuch, etwas absolut zu betrachten und zu beobachten, wie sich die Welt und wir uns mit ihr dabei verlieren.

Bedenken wir dies, so überrascht nicht, dass wir in dieser – man könnte sagen – „Vergehenssehnsucht“ auch die barocke Vanitas-Idee wiederentdecken.

[…]

Um einen weiteren Aspekt in Bettina Sellmanns Arbeiten erfassen zu können, ist es wichtig, sich die thematischen Parallelen des barocken Bewusstseins und der gegenwärtigen Bilderwelt vor Augen zu führen.

Der Bezug zur schnelllebigen sich selbst verbrauchenden Modeszene ist zunächst der klarste Verweis auf einen untiefen Vergänglichkeitskult, der auch die barocke Lebenswelt auszeichnet. Man könnte sagen: Die Etikette von damals ist die Marke von heute.

[…]

Dennoch: Wir dürfen uns trotz der hier aufgezeichneten Bezugspunkte zur barocken Ästhetik nicht irreführen lassen.

Die barocke Bewusstsein wurde geprägt von der Auffassung, dass man Wahrheit nicht improvisieren, d.h. intuitiv erfassen könne. Wahrheit konnte nur deduktiv aus Prämissen abgeleitet werden, vergleichbar einer Fuge, die aus einem einzigen Thema einen musikalischen Kosmos gebiert.

Heute denken wir anders. Wahrheit ist vielgestaltig, und dass sie improvisiert, dass sie spontan kreiert werden kann, dafür steht nicht nur die improvisierte Musik des 20. Jahrhunderts, sondern auch die vielfältigen künstlerischen Ansätze dieser Zeit, unserer Zeit, der Gegenwart.

Dafür steht auch die Arbeit Bettina Sellmanns. Ihre Malereien und Zeichnungen beruhen nicht auf ableitbaren Formeln, sondern auf einer malerischen Unmittelbarkeit, die das Bildsujet beherrscht und im Sinne des inneren Bilderlebens umsetzt.

Die hier vorgestellte Werksreihe versucht mit Hilfe eines barocken Vokabulars im Grunde das Gegenteil einer barocken Fuge: Sie geht nicht von einem Thema aus, das sie variiert und permutiert, sondern sie hat einen medialen Bildkosmos vor sich und versucht, mit Handleichtigkeit daraus ihr Grundthema abzuleiten. Die Bilder hinterlassen Formeln, Weltkürzel, Sinnaxiome. Sie sind keine Sinnbilder im herkömmlichen Wortgebrauch , sondern sie schaffen – wenn man so will – Bildsinn. Die Bildlogik gleicht somit einer ins Negativ verkehrten Allegorie oder Fuge, die aus figürlicher und sinnlicher Vielfalt einzigartige Bewusstseinsmomente kreiert – mit einer unendlich um sich greifenden Schönheit.

 

 

 

 

WORK