Andrea Dreher über die Bilder von Bettina Sellmann, in: Corona Stories, Galerie 21.06, Ravensburg, April 2020

(scroll down for English version)

 

Die folgende Kunst- und Künstlergeschichte soll unserer „Eröffnungs“-Künstlerin Bettina Sellmann gewidmet sein, denn ihre extravaganten Bilder waren es, die wir an Sonnwend 2017, also am namensgebenden 21.06. in unserer neu eröffneten Ravensburger Galerie 21.06 zeigen bzw. mit einem rauschenden Fest einem überwältigenden Publikum präsentieren konnten.

Mit dem Sellmann-Zitat „und irgendwie ist da immer ein trotzdem“ begann ich damals meine Rede anlässlich unserer Galerieeröffnung. Knapp drei Jahre später, in Zeiten von Corona, steht dieses Zitat in einem völlig anderen Kontext, aber es hat keineswegs an Aktualität eingebüßt. Denn die in Berlin lebende Malerin Bettina Sellmann ist immer noch eine Frau des „trotzdem“, sie lässt sich nicht unterkriegen, sie entwickelt ihren Malstil konsequent weiter und sie arbeitet unermüdlich, oftmals bis in die Nacht hinein. Auch in diesen Tagen trotzt sie Corona und malt weiter (trotz diverser Ausstellungsabsagen in ganz Deutschland). Wir werden ab Juni einige ihrer neuen Werke in Ravensburg im Rahmen der geplanten Ausstellung „NO (body) IS PERFECT“ hängen, immerhin ein kleiner Lichtblick für diesen Sommer!

Die in München geborene und heute in Berlin lebende Malerin hatte 2017 mehrere Monate für unsere Ravensburger Ausstellung (ihre Premiere in Süddeutschland!) gearbeitet. Wir wussten dieses Engagement umso mehr zu schätzen, weil wir der Künstlerin gegenüber ja noch nichts vorzuweisen hatten, außer Baustellenaufnahmen aus einer Provinzstadt im äußersten Süden der Republik. Doch Bettina Sellmann vertraute uns von Anfang an und sie malte nicht nur wunderbare Großformate mit Titeln wie nup, zap, zis, xuv, ixy, riu usw., sondern sie brachte sich auch mit ihrem professionellen Kuratoren-Auge engagiert und konzentriert in unsere Ausstellung mit ein.

Empfohlen wurde uns die Malerin übrigens von ihrer Künstlerkollegin Claudia Hummel, einer Weingartnerin, die schon lange in Berlin lebt und heute an der Universität der Künste unterrichtet. Bettina Sellmanns Malerei sei „einzigartig anders“ und selbst in der Großstadt Berlin ohne Vergleich. Diese Einschätzung hatte Stefanie Büchele und mich damals sofort überzeugt.

Sellmanns Malerei schafft es in der Tat, uns von Klischees zu befreien, so changiert sie zwischen Figuration und Abstraktion und schafft eine Stimmung, die Andreas Schlaegel in einem Text über die Künstlerin als „glamourös und magisch“ bezeichnet hat. Bettina Sellmann selbst sieht übrigens immer ihre Figur(en) im Bild, aber sie zwingt uns keine Sehrichtung und Denkweise auf, da es ihr wichtig ist, mit ihrer Kunst möglichst große Freiheit in uns Betrachter*innen auszulösen.

Spannend ist es im Übrigen auch, mit der Künstlerin über Themen wie individuelle Schönheit und persönliche Eitelkeit zu diskutieren, auch um ihren künstlerischen Schönheitskanon besser zu verstehen. Apropos Künstler*innen und Eitelkeit. Ja, es ist was dran an dem Vorurteil der künstlerischen und intellektuellen Eitelkeit. Auch Bettina Sellmann ist durchaus eitel, was ihr Werk angeht und so wehrt sie sich entsprechend klar und deutlich gegen Fehleinschätzungen und gegen platte schön-hässlich-Kategorisierungen. Zu Recht, denn ihre Malerei ist absolut „anders“, wenig konform und daher entsprechend angreifbar.

Es ist vermutlich auch das eine Jahrzehnt, das Bettina Sellmann in Brooklyn gelebt und gearbeitet hat, was ihren Arbeiten einen gewissen „spirit and way of life“ verleiht. Aus New York, wo sie im Übrigen mit einer Arbeit in der Sammlung des MoMA vertreten ist, kehrte sie wieder zurück nach Deutschland. Bettina Sellmann hatte an der Städelschule in Frankfurt studiert, war ein Jahr Stipendiatin in Paris, zog danach in die USA, um am Hunter College ihren Master drauf zu satteln.

Anlässlich der Ausstellung „Mond, Saturn und Tränen“ in der Frankfurter Oberfinanzdirektion erschien am 4.5.2019 eine Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der die Malerin so beschreibt: „Derweil ist Bettina Sellmann, die bei Christa Näher an der Städelschule studiert hat, mit Leib und Seele Malerin. Eine Künstlerin freilich, die nicht nur aus der Welt des Barock und des Rokoko, sondern stets auch aus der Welt der Alchemie, von Comic auch und Pop und Manga schöpft. Und dabei alle ihre Quellen in malerischer Hinsicht gleich behandelt. Ob die pinkfarbene „Venus“ oder der „Saturn“ in knalligem Türkis, der arglos den Betrachter anblickende „Little Boy Mad“ mit seinen rührend runden, strahlend grünen Manga-Augen oder das „Hübsche Mädchen“ mit onduliertem Haar in schillerndem Seniorenblau: Bettina Sellmanns geradeso zauberhafte wie wunderlich anmutende, in einem Rutsch auf die Leinwand getanzten Figuren sind nicht von dieser Welt. Sie materialisieren sich gerade eben zu seltsam püppchenhaften Wesen oder lösen sich im Gegenteil in diesem Augenblick in nichts als Farbe auf. Und blicken nun mit großen Augen in eine andere, in eine fremd und wunderlich gewordene Zeit. Eine Zeit und eine Welt indes, die der unsrigen doch ziemlich ähnlich zu sein scheint.“

Über sich selbst schrieb die Berliner Malerin einmal: „Meine Bilder sind geprägt von kindlichen Farben, sie erscheinen fast zeichnungsartig, leer und leicht. Durch die Malerei „teste“ ich unglaubwürdige, da überstilisierte Formeln auf ihr Potential. Bei näherem Hinsehen sieht man in den kitschig-kreischigen Oberflächen der Bilder das „Handgemachte“, fast sind sie trocken und lapidar gemalt. Der Malprozess liegt offen dar, ist nachvollziehbar.“

Ich würde Sellmanns Malerei als eine Malerei der „mutigen Träume“ bezeichnen, denn so wie sich die Motive und Figuren in ihren Bildern nicht festhalten und bändigen lassen, lassen sich auch unsere Worte und Gedanken zu dieser Kunst nicht fixieren. Viele von Sellmanns Bilder fühlen sich an wie gelebte Tagträume, die uns Flügel verleihen, die uns tanzen und lieben, schweben und abheben lassen aus dieser Welt, die leider viel zu oft aus düsteren Nachrichten besteht. Wer mit Bildern von Bettina Sellmann lebt, hat immer eine Tür zu seinem persönlichen Wunderland geöffnet! Schon jetzt steht fest, dass wir alle verändert aus dieser Pandemie-Krise hervorgehen werden. Bis es soweit ist, könnten wir uns beispielsweise an Sellmanns Bildern laben, die weder Krise noch Dunkelheit thematisieren, sondern die unserer Phantasie freien Lauf lassen!

 

 

Andrea Dreher on the paintings of Bettina Sellmann, in: Corona Stories, Gallery 21.06, Ravensburg, April 2020

 

The following art and artist’s story is dedicated to our „“inaugural“ artist Bettina Sellmann, as it was her extravagant paintings that we were able to show in our newly opened Ravensburg gallery 21.06 on Solstice 2017, i.e. on the eponymous 21.06, and present to an overwhelming audience with a lavish party.

I began my speech on the occasion of our gallery opening with Sellmann’s quote „and somehow there is always a nevertheless“. Almost three years later, in times of Corona, this quote stands in a completely different context, but it has lost none of its topicality. The Berlin-based painter Bettina Sellmann is still a woman of „nevertheless“, she doesn’t let things get her down, she consistently develops her painting style and she works tirelessly, often into the night. Even these days she defies Corona and continues to paint (despite various exhibition cancellations throughout Germany). We will be displaying some of her new works in Ravensburg from June onwards as part of the planned exhibition „NO (body) IS PERFECT“, which is at least a small ray of hope for this summer!

The Munich-born painter, who now lives in Berlin, spent several months working on our Ravensburg exhibition in 2017 (her first in southern Germany!).

We appreciated this commitment all the more because we had nothing to show for ourselves vis-à-vis the artist, apart from construction site photos taken in a provincial town in the far south of Germany. But Bettina Sellmann trusted us right from the start and not only did she paint wonderful large formats with titles such as nup, zap, zis, xuv, ixy, riu etc., but she also contributed to our exhibition with her professional curatorial eye in a committed and focused manner.

The painter was, by the way, recommended to us by her artist colleague Claudia Hummel, a Weingartner who has lived in Berlin for a long time and now teaches at the University of the Arts. She told us that Bettina Sellmann’s painting was „uniquely different“ and without comparison even in the big city of Berlin. Stefanie Büchele and I were immediately convinced by this assessment.

Sellmann’s painting does indeed manage to liberate us from clichés, oscillating between figuration and abstraction and creating an atmosphere that Andreas Schlaegel described as „glamorous and magical“ in a text about the artist. Incidentally, Bettina Sellmann herself always sees her figure(s) in the picture, but she does not impose any visual direction or way of thinking on us, as it is important to her to trigger as much freedom as possible in us viewers with her art.

It is also exciting to discuss topics such as individual beauty and personal vanity with the artist in order to better understand her artistic canon of beauty. Speaking of artists and vanity.––Yes, there is something to the prejudice of artistic and intellectual vanity. Bettina Sellmann is also quite vain when it comes to her work and thus clearly defends herself against misjudgements and shallow categorizations of beautiful and ugly. And rightly so, because her painting is absolutely „different“, not very conformist and thus accordingly liable to attack.

It is probably also the decade that Bettina Sellmann lived and worked in Brooklyn that lends her works a certain „spirit and way of life“. She returned to Germany from New York, where she also has a work in the MoMA collection. Bettina Sellmann studied at the Städelschule in Frankfurt, spent a year on a scholarship in Paris and then moved to the USA to complete her Master’s degree at Hunter College.

On the occasion of the exhibition „Moon, Saturn and Tears“ at the Frankfurt Oberfinanzdirektion, a review appeared in the Frankfurter Allgemeine Zeitung on May 4, 2019, describing the painter as follows: „Meanwhile, Bettina Sellmann, who studied under Christa Näher at the Städelschule, is a painter with heart and soul. An artist, of course, who not only draws from the world of Baroque and Rococo, but also from the world of alchemy, comics, pop and manga. And she treats all her sources equally in painterly terms. Whether the pink „Venus“ or „Saturn“ in bright turquoise, the guileless „Little Boy Mad“ with his touchingly round, bright green manga eyes or the „Pretty Girl“ with her ondulated hair in iridescent old-age blue: Bettina Sellmann’s enchanting and whimsical figures, which are danced onto the canvas in one go, are not of this world. They materialize into strange, doll-like beings or, on the contrary, dissolve into nothing but color in this very moment. And now they gaze wide-eyed into another time, a time that has become strange and whimsical. A time and a world, however, that seems to be quite similar to our own.“

The Berlin painter once wrote about herself: „My paintings are characterized by childlike colors, they appear almost drawing-like, empty and light. Through painting, I „test“ implausible, over-stylized formulas for their potential. On closer inspection, you can see the „handmade“ in the kitschy, shrill surfaces of the pictures; they are almost dry and succinctly painted. The painting process is open and transparent.“

I would describe Sellmann’s painting as a painting of „courageous dreams“, because just as the motifs and figures in her pictures cannot be captured and tamed, neither can our words and thoughts about this art be fixed. Many of Sellmann’s pictures feel like lived daydreams that give us wings, that make us dance and love, float and take off from this world, which unfortunately all too often consists of gloomy news. Those who live with Bettina Sellmann’s pictures always find a door to their own personal wonderland! It is already clear that we will all emerge from this pandemic crisis as different people. Until then, we can enjoy Sellmann’s pictures, for instance, which focus neither on the crisis nor the darkness, but give free rein to our imagination!